Recherche in der Nazizeit

Eine Anleitung zur Recherche von Christina Holch [gekürzt]

Was haben meine Eltern, Großeltern, Onkels, Tanten zur Zeit der Nationalsozialismus gemacht? Waren sie verstrickt in das Nazisystem? Waren sie gar an Verbrechen beteiligt? Das Interesse an diesen Fragen lässt nicht nach und steigt in der Kinder- und Enkelgeneration sogar noch einmal an.

Eine Recherche zur eigenen Familie in der NS-Zeit dauert fast immer länger als zwei Monate. Man sollte mit mindestens einem Jahr rechnen. Man wartet ja schon Wochen, bis ein Archiv antwortet.

Die Hoffnung: „Am Ende weiß ich alles.“ – Eher nicht. Meist weiß man am Ende immer noch nicht, wie der Verwandte dachte – wie er zum Nationalsozialismus stand, ob sich seine Einstellung über die Jahre geändert hat….

Wehrpass

Der Glaube: „Am Ende weiß ich doch nichts.“ – Auch wenn man am Ende meist nicht weiß, was ein Verwandter konkret getan hat, kann man es sich – mit einem Trick – ausmalen. Der Trick heißt: lesen, lesen, lesen. Und zwar Bücher zum Umfeld. Zum Beispiel Fachliteratur über einzelne Dienststellen des NS-Apparates, über einzelne Feldzüge, über Verbrechen an bestimmten Bevölkerungsgruppen usw. So kann man das Dunkelfeld erhellen und den Verwandten darin verorten.

Der Anfang: das Familienwissen ausschöpfen

Es gibt fast immer mehr an Erzählungen, Wissen und Dokumenten, als man denkt oder als die Angehörigen zunächst erinnern. Dazu jeden, wirklich jeden der letzten noch lebenden alten Verwandten befragen, auch die, mit denen man noch nie Kontakt hatte oder nicht mehr. Fast immer haben sie wertvolle Hinweise beizusteuern. Und so viele Zeitzeugen gibt es ja heute nicht mehr. Alte Menschen freuen sich über Besuch, Telefonate, Interesse. Aber auch gleichaltrige Vettern und Cousinen könnten im Besitz von Dokumenten, Briefen und Fotos sein! Nach Möglichkeit sollte man öfter fragen, denn vor allem alte Menschen erinern sich erfahrungsgemäß immer wieder an andere Geschichten und Details.

Die erste Antwort ist auch oft: „Nee, ich hab da nichts.“ Bis jemand anfängt, doch nochmal nachzuschauen in Schränken und Schachteln, das kann dauern, denn viele Menschen scheuen vor einer Beschäftigung mit Vergangenem zurück, vor dem Wühlen in Kisten und Kästen sowieso. Also, nicht locker lassen! Häufig werden sie dann doch fündig. Denn solch offizielle Dokumente wie Personalausweis („Kennkarte“), Wehrpass, „Ariernachweis“, Entlassungschein, Rentenanträge werfen die meisten Leute nicht einfach so weg.

Um in den gesprächen nicht gleich abgeblockt zu werden, sollte man Fragen nach Weshalb, Warum, Wieso vermeiden. Man will ja nicht Rechtfertigungen hören, sondern Erzählungen. Dazu muss man verleiten, mit Erzählaufforderungen: „Wie war das denn damals, …?“
Man fragt zunächst nicht direkt nach dem Vorfahr, sondern geht mit dem/der GesprächspartnerIn erst einmal in deren eigene Vergangenheit zurück. Das könnte sich etwa so anhören: „Sag mal, und dann bist du in Hanau zur Schule gegangen – musstest du da weit gehen jeden Morgen?“ „Wer saß damals alles mit am Abendbrottisch?“ „Kannst du dich auch an ein Fest erinnern?“ Erinnerungen kommen vor allem dann zurück, wenn man sich an sinnlichen und leiblichen Erinnerungsfragmenten entlanghangelt.
Kaum jemand kann sich nach Jahrzehnten noch genau an eine Begebenheit erinnern; die Erinnerung wird überlagert von späteren Einschätzungen; manche der angegebenen Daten sind falsch; Ereignisse aus verschiedenen Jahren werden erzählend zu einem einzigen Ereignis verschmolzen; usw. Aber komplett falsch sind Erzählungen auch selten.

Alles, was man in der Familie erfahren und gefunden hat, aufschreiben. Geburtsdatum, alle Wohn- und Aufenthaltsorte, Ehepartner, Berufskollegen, Arbeitgeber, Namen von Freunden, Berufe, Vereinszugehörigkeiten, Interessen, überlieferte Erinnerungen, Briefe… Wichtigste Frage ist dabei: Wo war dieser Mensch überhaupt? Dann kann man viel gezielter weiterforschen, etwa in Landesarchiven.

Entnazifizierungsakten

Über Mitgliedschaften oder Funktionen innerhalb des NS-Systems erfährt man oft etwas in den Entnazifierungsakten („Spruchkammerakten“) – sofern solch eine Akte zu der Person angelegt worden ist. Die alliierten Siegermächte hatten nach Kriegsende etwa 182.000 Deutsche inhaftiert, um ihre Schuld an den Verbrechen des NS-Staates zu klären. Man teilte die Leute dann ein in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete.

Spruchkammerakten sind mit Vorsicht zu lesen! Denn die Entnazifizierungsbescheide sind oft eher aus Gefälligkeit erstellte Persilscheine als tatsächlich recherchierte Bescheide. Man bezeichnete die Spruchkammern deshalb sogar als „Mitläuferfabriken“. Hintergrund: Die Spruchkammerverfahren sahen eine Umkehr der Beweislast vor, d.h. die Beklagten mussten selbst Beweise herbeischaffen dafür, dass sie trotz allerlei Zugehörigkeiten oder Ämter etc. den NS-Staat nur unwesentlich unterstützt oder sogar Widerstand geleistet hatten. Dafür bat man Freunde und Bekannte, die Unbescholtenheit zu bezeugen oder Begebenheiten zu schildern, aus denen auf eine gewisse Regimeferne geschlossen werden konnte.

Die Einstufung als bloßer „Mitläufer“ sollte man also nicht einfach so übernehmen. Sonst läuft man Gefahr, aus den Akten genau das beschönigende Bild herauszulesen, das über Jahrzehnte in der Familie tradiert wurde.

Wertvoll sind die Spruchkammerakten für Recherchierende dennoch, da in den Meldebögen die Mitgliedschaften in der NSDAP oder anderen parteinahen Organisationen aufgelistet sind, die allermeist innerhalb der Verwandtschaft überhaupt nicht bekannt sind.

Die Akten der Spruchkammerverfahren sind hier gesammelt:
– für die britische Zone im Bundesarchiv Koblenz
– für die amerikanische Zone in den Staatsarchiven der einzelnen Bundesländer
– für Baden-Württemberg im Staatssarchiv Ludwigsburg
– für Bayern im Staatsarchiv München
– Sowjetische Besatzungszone bzw. DDR: Stasi-Unterlagen-Behörde.

Hat man die richtige Behörde, das richtige Archiv gefunden, kann man seine Anfrage meist per Email stellen. Wichtig: Alle bekannten Daten erwähnen, also alle Vornamen, Geburtsdatum, wo gelebt, welcher Landkreis.

Deutsche Dienststelle (WASt)

Die WASt informiert nicht nur über Gefallene, sondern über alle Kriegsteilnehmer – sofern es dazu Unterlagen gibt. 18 Millionen Karteikarten von Teilnehmern des II. Weltkrieges (Wehrmachtsoldaten und Angehörige anderer militärischer bzw. militärähnlicher Verbände). Achtung, die WASt ist kein Archiv, sondern eine Behörde, man bekommt keine Unterlagen in Kopie, sondern nur Bescheide. Die Wartezeiten können bis zu 2 Jahre betragen.

Das Bundesarchiv

Das Bundesarchiv ist das zentrale Archiv der Unterlagen des Bundes und seiner Vorgängerinstitutionen. Das Bundesarchiv teilt sich in verschiedene Dienststellen (Koblenz, Freiburg, Ludwigsburg, Berlin, Bayreuth) mit verschiedenen Beständen auf.

Achtung: Das Bundesarchiv recherchiert bei Anfragen nicht selbst in seinen Beständen, sondern schickt eine Kurzbeschreibung, welche Bestände bzw. Aktensignaturen für die Recherche interessant sein könnten. Fragen kann man aber zum Beispiel, ob der Verwandte Mitglied der NSDAP oder anderer NS-Organisationen war. Das Bundesarchiv bewahrt diese Mitgliederkarteien fast vollständig auf.

  • Welche Bestände zum Dritten Reich in welchen Teilarchiven liegen, siehe hier.
  • Liste von Recherchediensten.

Militärarchiv (Teil des Bundesarchivs)

Das Militärarchiv in Freiburg bewahrt an personenbezogenen Daten auf:

  • Die Personalunterlagen der Offiziere der Wehrmacht (Heer, Luftwaffe, Marine, nicht Waffen-SS) auf.
  • Wehrmachtsgerichtliche Unterlagen aller Dienstgrade (z.B. bei Fahnenflucht etc.)
  • Verleihungslisten (z. B. Eisernes Kreuz etc.) von Wehrmachtsangehörigen aller Dienstgrade
  • Vereinzelte Erwähnungen vor allem von Offizieren in den Kriegstagebüchern der Einheiten der Wehrmacht und Waffen-SS

Stadt- und Landesarchive

Die Bundesländer haben eigene Archive, oft Staatsarchiv genannt. Sie bewahren die schriftliche Überlieferung der Landesbehörden und Landeseinrichtungen auf, oft auch der Kommunalbehörden (auch Gerichtsakten, historische Einwohnermeldekarteien, Personalbüro-Unterlagen, Dokumente der Entnazifizierungsstellen)

Quellen:

[1] https://chrismon.evangelisch.de [Stand 07.02.2017]

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