Eiswinter 1987

Gerade habe ich im Internet einen Bericht über den Eiswinter 1987 geslesen. An den Winter kann ich mich erinnern. Damals war ich Studentin in Gotha. Es war bitterkalt, wenn wir morgens an der Straßenbahn standen, um zur Fachschule zu fahren. Der Weg vom Wohnheim zur Straßenbahn und von der Starßenbahn zur Schule war ein Qual. Die Kälte zwickte ordentlich in die Wangen und wir mummelten uns ein bis an die Nasenspitze. Ich habe nie wieder einen so kalten Winter erlebt. An den 1978/1979 kann ich mich nicht erinnern, da war ich 12 und habe das wohl nicht so schlimm empfunden.

Das Jahr 1987 startete mit starkem Regen. Im Thüringer Wald fielen innerhalb von 24 Stunden 60 Liter, im Harz 30. Die Pegelstände stiegen. Dann schneite es ab 4. Januar. Und die Temperaturen sanken auf Werte, die seitdem nicht wieder erreicht wurden. Am 10. Januar 1987 hatte die eingeflossene, bodennahe eisige Luft die Temperaturen in weiten Teilen Europas stürzen lassen. Der westeuropäische Kälterekord wurde mit minus 41,8 Grad Celsius  im Schweizer Jura gebrochen. Davon hörten wir in der ehemaligen DDR natürlich damals nichts. In der Nacht vom 13. zum 14. Januar 1987 registrierte Berlin die kälteste Januarnacht des Jahrhunderts, das ja schon etliche wirklich harte Eiswinter gebracht hatte (1940, 1978/79). Berlin-Schönefeld meldete minus 25 Grad, Kamenz (Lausitz) minus 30 Grad, in Gardelegen bei Magdeburg wurden minus 28,1 Grad gemessen, in Görlitz minus 27,5 Grad und in Erfurt minus 24,4 Grad.. Sechs Tage lang, vom 10. bis zum 15. Januar stiegen die Tagestemperaturen vielerorts nicht über minus 20 Grad. Das war zu viel für die ehemalige DDR.

Die Schlagzeile des Neuen Deutschland auf Seite 1 vom 15. Januar machte die katastrophale Lage klar: „Großer Einsatz zur Meisterung der Situation, die durch ungewöhnlich große Kälte entstanden ist“. Die Zeitung berichtet von „außerordentlich komplizierten Bedingungen“. Kohlekumpel, unterstützt von der Nationalen Volksarmee und Polizeibereitschaften stünden „in aufopferungsvollem Kampf“ zur Versorgung der Bevölkerung und der Volkswirtschaft. „Dennoch konnten Störungen und Ausfälle nicht verhindert werden.“ Die Aktuelle Kamera berichtet am 16. Januar vom „Kampf gegen Schnee und Kälte“.

Aus dem Tagebau Greifenhain hieß es, ein „großer Kampf“ um den in Gefahr geratenen Plan finde statt. Die feuchte Braunkohle fror an den Fördergeräten und in den Waggons fest. Mit Körperkraft und Eisenstangen schufteten alle auftreibbaren Kräfte, um die Produktion am Laufen zu halten. Normalerweise reduzierten Trockner den Wassergehalt der Kohle, um sie brennbar zu machen. Doch fielen viele Trockner aus, das Material, das die Kessel der Heizkraftwerke erreichte, brannte schlecht oder gar nicht. Der Reporter der Berliner Zeitung berichtete am 16. Januar aus dem Großtagebau Meuro, wie Kohlearbeiter und Soldaten mit Lauge und Gasbrennern gegen die gefrorene Kohle in den Schaufeln der riesigen Radbagger vorrückten: „Hier wird eine Schlacht geschlagen.“ Die Gleise in den Kohlegruben, die den Abbaubaggern folgend ständig verlegt werden mussten, waren nur unter größten Mühen, wenn überhaupt, aus den Betten zu hebeln. Förderbänder rissen. Und dann explodierte zu allem Unheil nach Tagen der Höchstbelastung der Maschinenraum des Blocks 13 in Boxberg – eines der wichtigsten Kraftwerke überhaupt.

Die Kälte traf die ehemalige DDR an ihrer verwundbarsten Stelle, der Energieversorgung. Die Braunkohle war nur oberirdisch abzubauen und von minderer Qualität. Man arbeitete ohnehin nahe an der Belastungsgrenze; ein strenges Energiemanagement gehörte zur DDR-Normalität. Die Bürger erhielten regelmäßig Mitteilung über Tagesspitzen im Stromverbrauch und entsprechende Mahnungen, energieintensive Haushaltsgeräte in den heiklen Stunden nicht zu benutzen. In jenem Winter aber rissen viele der dünnen Sicherheitsnetze.

Bei Neuschnee von bis zu 40 Zentimer und Schneeverwehungen waren mehrere Fernstraßen im damaligen DDR-Bezirk Karl-Marx-Stadt unpassierbar. 20 Landstraßen mussten im Bezirk Erfurt gesperrt werden. Das Eis war bis zu 15 Zentimeter dick im Hafenbecken des Überseehafens Rostock.

Die Stimmung der Bevölkerung sank in gefährliche Tiefen. Nach Schätzungen westlicher Experten fiel in der Woche nach dem 12. Januar in 200.000 Wohnungen republikweit die Fernheizung aus. Zwar gab es im Eiswinter auch in der DDR Todesopfer wie den Gleisarbeiter, der beim Verlegen vereister Teile erschlagen wurde – aber niemand erfror oder verhungerte. Anders in der Sowjetunion, wo allein bis Mitte Januar 80 Menschen erfroren, in Polen 36. Dort stellte die Regierung des Generals Jaruzelski sogar wegen Strommangels den Betrieb der Störsender ein; Radio Free Europe und die Deutsche Welle waren besser denn je zu hören.

Ich persönlich werde den Winter nicht vergessen. Leider gibt es keine Fotos in unserer Familie aus diesem Winter.

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