Schwimmsandkatastrophe Brüx

Mein UrUrgroßvater Franz Richter kam nach 1881 mit ca. 50 Jahren nach Brüx. Seine Ehefrau war 1881 verstorben und er hatte nur seinen 1873 geborenen Sohn Johann [Baptist] bei sich. Im Jahr 1895 am 19. bis 20. Juli (21.15 Uhr bis 6 Uhr) ereignete sich in Brüx die Schwimmsandkatastrophe im Anna-Schacht. Das haben beide damals hautnah miterlebt.

Eventuell hat auch meine Urgroßmutter Maria Albine Sopper damals schon in Brüx gewohnt und das Ganze miterlebt. Sie heiratete 1897 meinen Urgroßvater Johann Richter.

Ein erster Eindruck

Brandgeruch weht Einem entgegen, wenn man vom Bahnhof kommend der Stadt zuschreitet. Man kommt kaum zehn Schritte weit, und schon ist man mitten drin in der Verwüstung. Zur Rechten des Auffahrtsplatzes vor dem Bahnhofe mündet die Bahnhofstraße ein. Hier also war die wohlhabende Welt von Brüx zu Hause? Trümmer zur Rechten, Ruinen zur Linken, Haufen von Ziegeln und Balken, die wie aus der Erde gewachsen an Stelle eines Palastes stehen – das ist alles. Die Straße ist abgesperrt, und gestrenge Veteranen mit aufgepflanztem Bajonnett auf einem alten Gewehr halten Wacht, daß keines Unberufenen Fuß diese Stätte betritt. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit! Weitere Einsturzgefahr droht, meinen die Leute, aber es ist mehr die Furcht vor Dieben, die sie veranlaßt, so strenge Wacht zu halten. Dort wo die Häuser der armen Leute stehen, können wir passieren, und ein städtischer Telephonarbeiter bietet sich freiwillig als Führer an. Die Gasgasse zeigt er uns zuerst. Sie läuft parallel mit dem Bahnkörper und der Bahnhofstraße. Sie ist fürchterlich zugerichtet. Gleich zur Linken ist das Haus des Schmiedes Siegel. Die Fassade ist vornüber in einen tiefen Erdspalt gestürzt, das ganze Haus von links nach rechts verschoben, und man sieht in den beiden Stockwerken die Proletarierwohnungen bloßgelegt: aufgeschlagene Betten, wie sich’s die Leute Freitag Abends eben zurecht gerichtet hatten, ein rothgeblumtes Tischtuch auf dem Holztisch, ein schwarzledernes Sofa, Kästen, kurz alles, was sonst in einer Proletarierwohnung zu finden ist. Schräg gegenüber, gegen die Johnsdorferstraße zu, ist ein tiefes Erdloch und daneben ein eingestürztes Haus, das ganz in sich zerfallen ist. Daneben wieder eines und gegenüber eins an der Ecke der Bahnhofstraße und der Gasgasse das Haus des Dr. Richter aus Prag, ein prächtiges einstöckiges Gebäude: es versank als erstes am Abend des Freitag vor den Augen der entsetzten Zuschauer in den Erdboden. Ein Dachaufsatz als Bodenluke ruht unversehrt auf dem Trümmerhaufen, zehn Meter tiefer ein Fauteuil mit grünem Plüsch überzogen, als Zeuge, daß auch in diesem Hause Wohlleben und Eleganz geherrscht. Unser Führer war Zeuge des Einsturzes. Auf die ersten Nachrichten hin, daß hier und dort Erdrisse sich zeigten, eilten die Feuerwehrleute und Polizeimänner in die gefährdeten Häuser, um die schlafenden Bewohner zu warnen. Aber schneller als die Warnung kam das Unglück heran. Nur nothdürftig bekleidet, stürzten die Leute aus den Häusern. Vor dem Richter’schen Hause stand eine große Menschenmenge, die allgemein den Einsturz des etwa dreißig Meter weit entfernten Hauses der Bergdirektors Fitz in der Bahnhofstraße erwartete. Der hintere Trakt dieses Hauses war nämlich schon vorher niedergegangen. Da durchzitterte plötzlich ein Krachen und Tosen die Luft, die Menge wich zurück, und im nächsten Moment schlug eine dichte Staubwolke hoch empor, jeden Ausblick verhindernd. Als sich der Staub verflüchtigte, war das Richter’sche Eckhaus, das im Moment vorher noch tadellos war, vom Erdboden verschwunden. Entsetzt sahen die Leute dieses Zerstörungswerk einer Minute. Jetzt erinnerten sie sich, knapp vorher am Fenster im ersten Stockwerk eine Frau mit einem Kind am Arm gesehen zu haben, ein anderer wollte einen Feuerwehrmann auf dem Dache gesehen haben, nun war von den drei Personen keine Spur! Das waren aber nur Phantasiegebilde! Es ist vom Hause Richter und von der Brüxer Feuerwehr niemand abgängig. In der Schreckensnacht gab es freilich viele Vermißte, jeder stürmte, ans eigene Leben denkend, aus dem Bereich der Katastrophe hinaus auf die Felder, auf die Plätze der Stadt, aber am nächsten Morgen fanden sich die meisten wieder. Nur eine Matrone und ein Dienstmädchen sind noch abgängig. Den Leichnam eines Lehrjungen grub man gestern Früh gräßlich verstümmelt und ganz plattgedrückt aus den Trümmern. Er bewohnte bei den Eltern seines Meisters, des Schlossers Doleschal, mit anderen sieben Personen eine aus Zimmer und Küche bestehende Wohnung neben dem Hause des Direktors Fitz. Der arme Junge war übermüdet und bereits im festen Schlafe, als die Polizeileute die Bewohner alarmirten. Die sieben anderen Insassen hatten eben das Haus verlassen, als es zusammenbrach, den im Bette ruhenden Lehrjungen unter den Trümmern begrabend.
Die Ecke der Bahnhofstraße und der Johnsdorferstraße nimmt der Siegl’sche Gebäudekomplex ein. Das Hotel – in Pacht des Herrn Ruschka – ist total eingestürzt. Den Mann trifft großer Schaden. Am Samstag hätte eine «große Hochzeit» sein sollen, und er hatte um 1200 fl. Weine und Speisen auf Bestellung vorbereitet, in der Kasse hatte er sein Baarvermögen, dann sein Inventar, kurz alles, was er besaß, versank. Nur das nackte Leben rettete er. So ging es auch dem Spediteur Siegl, der nur einen ganz kleinen Theil seines Vermögens rettete. Das andere ruht tief unten in der Erde.
Gegenüber dieser Stelle führt zum Kreuzordenskonvikt die Hufeisengasse hinunter. Hier sind die Häuser des Weinhändlers Vogel, des Hopfenhändlers Fischer und des Oswald Schmid eingestürzt. Von der St. Wenzel-Volksschule steht die Fassade, im Innern ist das Gebäude zusammengebrochen, sonst sind alle Häuser in der Gasse schwer beschädigt, nur das Haus der Zentralbruderlade für Nordwestböhmen blieb bisher intakt. In einer der eisernen Kassen befinden sich noch Geld und Wertpapiere, sie können nicht herausgeholt werden, da die Kasse dreifache Sperre hat und die drei Schlüsselbesitzer sich in dem allgemeinen Wirrwarr nicht finden können.
In der Johnsdorferstraße sind noch die Häuser des Bäckers Seidel, des Wirthes «zum goldenen Kreuz», des Kaufmanns Krehann, des Kaufherrn Dissing und in der Verbindungsstraße zur Teplitzergasse die Häuser der Bergwerksdirektion und der nebenan Wohnenden zum Teil oder ganz zerstört.
Der Weg über die Unglücksstätten führt fortwährend neben tiefen Schlünden und Rissen, über eingesunkenes Pflaster, Ziegelhaufen, Balken und Möbelstücke. Ein Chaos, wie es ärger nicht gedacht werden kann. Aus dem Sieglschen Besitz steigen Gase auf, hier hat es fürchterlich gebrannt, und man konnte dem Element nicht bei. Es glimmt im Innern heute noch fort.
Die Obdachlosen? Sie sind recht und schlecht in öffentlichen Gebäuden, in Schulen, im Kloster und bei Privaten untergebracht. Unter Tags umschleichen sie mit betrübter Miene ihren Wohnsitz, aber ein gestrenger Herr Schreiber von der Bergwerksdirektion läßt mit Poltern und Schelten die Leute wegjagen von den Ruinen ihres Besitzes, und eine schneidige Kavallerie reitet ganz so wie anderswo in die Menge.

Text von Max Winter 1870 – 1937

Liste der eingestürzten Häuser:

  • Johnsdorferstraße: ein Haus, Stratol; zwei Häuser, Waschirowsky (dieser besaß auch ein zweistöckiges Gebäude, das bis zum Dachstuhl in den Boden versunken ist. Hier befand sich auch die Restauration «zur Eisenbahn»); ein Haus, Hopfenhändler Fischer; ein Haus Oswald Schmid; ein Haus, Weinhändler Vogel; ein Haus, Bäcker Seidel, Gasthof «zum Kreuz» (in der Mitte geborsten, zum größten Theil versunken).
  • Gasgasse: ein Haus, Direktion der Brüxer Bergbauggesellschaft; ein Haus, Schmied Siegel; ein Haus, auf der linken Seite total versunken.
  • Bahnhofstraße; zwei Häuser, Hotelier Siegl; drei Häuser, Hiecke (zwei Hofgebäude und das Vordergebäude); ein Haus Dr. Richter; ein Haus, Bergdirektor Fitz (rückwärtiger Theil).
  • Außerdem sind schwer beschädigt, wie zum Theil geschildert: alle sieben Häuser «Am Taschenberg», wo nur Arbeiter wohnen, fünf Häuser in der Gasgasse, acht Häuser in der Hufeisengasse, fünf Häuser in der Bahnhofstraße; endlich der Bahndamm, der in der Strecke Brüx-Komotau zum Theil eingestürzt ist.

Bei der „Schwimmsandkatastrophe von Brüx“ traten im nördlichen Stadtteil erhebliche Bodensenkungen ein. Davon waren Wohnhäuser, Straße und der damalige Bahnhof mit dramatischen Auswirkungen betroffen. Der abgeglittene Treibsand floß in Abbaukammern der Grube „Annahilfsbau“ und entleerte sich weiter in die Streckenvorstöße dieses Bergwerks. Durch dieses Ereignis wurden fast 2500 Menschen obdachlos und drei Bewohner verloren dabei ihr Leben. Bei dieser Katastrophe versanken 25 Häuser und 13 weitere Gebäude erlitten erhebliche Beschädigungen. Einige ähnliche Einbrüche ereigneten sich hier in den Jahren 1896 und 1897. Diese Ereignisse beruhen auf einer besonderen geologischen Lagerstättensituation der Region, die durch den Kohlebergbau ihre Wirksamkeit entfaltete. Es entstand der Bergbaugesellschaft ein Velust von 1,085.567 fl. 32 kr. Dieser Verlust erreichte diese enorme Höhe, weil die Brüxer Kohlenbergbau-Gesell­schaft – ohne es auf eine gerichtliche Entscheidung ankommen zu lassen – die Besitzer der beschädigten Grundstücke durch Erwerbung der Letzteren schadlos hielt.  

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